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Alexander Biedermann aus Thüringen hatte Schlaganfälle, Lähmungen, leidet an extremen Bluthochdruck. Der frühere Hauptmann der NVA (kleines Bild r.) hatte jahrelang Soldaten am Radar der sowjetischen Schilka-Flugabwehr ausgebildet. Dieter Neumann kam 1961 mit schweren Missbildungen zur Welt. Folgen eines Gendefekts? sein Vater war Hauptmann der Konny-Radarstation bei Augsburg | ||||
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Von WOLFGANG METZNER, SASCHA BALASKO und MATTHIAS JUNG (Fotos) | ||||
Rechts ist das Gesicht noch taub. Die Wunde frisch. Zwölf Zentimeter Wulst am Hals, wo bei der Operation vor ein paar Tagen eine Kunststoffröhre für eine Ader eingesetzt wurde. Bloß kein Schlaganfall mehr. „Den würde ich nicht überleben, sagen die Ärzte." Alexander Biedermann schaut aus seinem grauen Haus im thüringischen Barchfeld in einen grauen Himmel, bevor er eine Tablette runterspült. Eine von dreizehn. Dreizehn am Tag. Tabletten gegen Entzündungen, gegen Nierenbeschwerden, Beta-Blocker gegen seinen Hyper-Blut-druck. Dennoch: „Kopfschmerzen sind bei mir normal, die Hände schlafen ein, ich bin oft todmüde, und ich kann mir einfach nichts mehr merken" klagt der blasse Mann, früher ein Kerl von Hauptmann, jetzt, mit 53 Jahren, ein Frührentner, der nur noch mit eiserner Disziplin über den Tag kommt. „Das hat damals alles mit der NVA angefangen. Hundert Prozent." 1967, Zeit des Kalten Krieges. Alexander Biedermann verpflichtete sich freiwillig bei der Nationalen Volksarmee der DDR, um später studieren zu können. Der junge Soldat wurde an die „Unteroffiziersschule l der Landstreitkräfte" in Weißwasser kommandiert, zu einer „Schilka"-Abwehrbatterie, die mit ihren Radarstrahlen nach Tieffliegern des „Klassengegners" spähen sollte. Neueste sowjetische Militärtechnik. Supergeheim. Bloß wunderte er sich bald, dass er ein knallrotes Gesicht bekam, sobald er länger als eine halbe Stunde an der Radaranlage saß, „wie nach zu viel Höhensonne". Später musste er dort täglich mehrere Stunden sitzen, nachdem er Ausbilder geworden war - rund 30 Zentimeter entfernt von der „Magnetron"-Senderöhre, die horrende Mengen von Röntgenstrahlung ausschickte. „Über die Gefahren sagte keiner ein Wort." Sein Blutdruck stieg so extrem, dass er offene Beine bekam: „Ich hab mich im Sommer verkrochen, weil das Blut da oft wie Suppe runterlief." In einer Wunde konnte er mit dem Finger bis zum Knochen tasten, und immer häufiger entstellte ihn eine Gesichtsrose. Dazu kamen schwere Schlafstörungen. 1978 war er so krank, dass ihn eine Ärztekommission aus der NVA entließ. Aber damit war die Quälerei nicht etwa vorbei. 1988 zwei Schlaganfälle, 1992 ein Loch in der Netzhaut, 1994 komplettes Nierenversagen, dann auch noch eine Blutung unter der Schädeldecke, die ihn fast lähmte. | ||||
Was wird noch kommen? „Ich setz mich nicht in die Ecke und heule - obwohl mir manchmal danach wäre", sagt Biedermann leise. Dass Radar sein Leben ruiniert hat, war ihm spätestens klar, seit er vom Schicksal anderer Schilka-Leute erfahren hatte: ,Von zwölf Mann, die ich kannte, leben acht nicht mehr." |
Kein Einzelfall mehr unter Radarsoldaten. Eine neue, erschreckende Dimension des Skandals zeichnet sich ab: der Verdacht auf Erbschäden, die von der Röntgenstrahlung stammen könnten. Auch der frühere Oberfeldwebel Rüdiger Deike, der elf Jahre im niedersächsischen Dörverden Hawk-Anlagen wartete, zeugte ein Kind, das nicht überlebensfähig war. Dann kam Sohn Lars, dem ein Hoden fehlte. Dann Tochter Lea. „Ich war bei der Geburt dabei", sagt Rüdiger Deike, „schaute, ob alles dran ist." Zählte die Finger. Zählte sechs an jeder Hand.
„Wer hier arbeitet, bekommt nur Mädchen", hatten seine Kameraden manchmal gescherzt, wenn er am Hawk-System Dioden austauschen oder das Gerät neu einstellen musste. Leas Kinderarzt hält es für „naheliegend, dass die Strahlenbelastung der Auslöser war" für ihre Fehlbildung. Inwischen haben die Ärzte ihre sechsten Finger entfernt. Bei Lea, die noch heute ihre Hände nicht zeigen will, waren solche Korrekturen möglich - bei Dieter Neumann nicht.
Als der inzwischen 40-jährige Mann 1961 in Königsbrunn bei Augsburg zur Welt kam, sah er aus, als wäre er aus der Strahlenhölle von Hiroshima gekommen. Der linke Daumen am Oberarm festgewachsen. Der rechte Fuß ohne Bein, direkt am Becken. Das linke Bein grotesk nach hinten gespreizt, daran ein Klumpfuß. Der Pfarrer machte eine Nottaufe. Im Kinderkrankenhaus Josefinum erwartete man den „Exitus". |
DIE MILITÄRISCHE FÜHRUNG hätte gewarnt sein können. Während in der DDR die Stasi die Hand über die geheime Technik des Waffenbruders hielt, gab es in der Bundesrepublik ab 1958 Alarmzeichen. "Beträchtliche Röntgenstrahlung" maß etwa das Fernmeldetechnische Zentralamt an einer Thyratronröhre in der Luftwaffenschule 1 in Kaufbeuren: "Montage- und Einstellarbeiten sind an dieser Stelle daher gefährlich." Doch die von Fachleuten dringend empfohlenen Bleihandschuhe bekamen die Soldaten erst viel später. In einem Vermerk der Hardthöhe ist 1960 ausdrücklich von einer möglichen „Zersetzung des Eiweißes" von einer „Schädigung der Blutgefäße", von „Rückwirkungen auf das vegetative Nervensystem" die Rede. Danach hielt eine Expertenrunde im Verteidigungministerium eine Verschärfung der „Zentralen Dienstvorschrift 44/20" zur Arbeit an Radargeräten für „dringend erforderlich". Einige Abschirmungen wurden eingebaut, aber in der Praxis änderte sich nicht viel.
„Haben Sie sich nicht so! Es herrscht Krieg!", fuhr ein Vorgesetzter einen Soldaten während eines Manövers an, und das
war damals offenbar eine Grundhaltung bei der Truppe. „Man hat uns nicht gewarnt, man hat uns nicht belehrt, man hat uns einfach verbraten", schimpft Heinz Dankenbring aus Kaufbeuren, der ebenfalls Hauptmann in der Konny-Station war und auf dem Gelände auffällig missgebildete Kaninchenjunge sah.
Günter Käs, früher Professor an der Bundeswehr-Universität in München, räumt ein: „Insbesondere in den fünfziger und sechziger Jahren wurde die Radartechnik unter Sicherheitsbedingungen betrieben, die jenseits von Gut und Böse waren." Aber auch noch später standen die Soldaten oft ungeschützt im Radarfeuer. So verlor Dietmar Glaner seinen linken Unterarm, weil er bis 1975 als Feuerleitmechaniker an der Nase des >,F- 104"-Jets herumschraubte. Die Hand war vom Krebs so zerfressen, dass nicht mal eine Chemo-oder Strahlentherapie versucht wurde. Wie fahrlässig gerade die Marine mit ihren Matrosen umging, zeigte 1976 eine Untersuchung auf der Fregatte „Emden" nach einem NotfalL Ein Papier des Verteidigungsministeriums hielt fest, dass auf 22 Schiffen Radargeräte des Typs „SGR 103" im Einsatz waren, die eigentlich alle sofort hätten stillgelegt werden müssen. Nach der Röntgenverordnung durften damals strahlenexponierte Personen wie etwa Ärzte bis zu fünf rem pro Jahr aufnehmen. Die Marinesoldaten hatten vermutlich ein Vielfaches abbekommen: „bis zu 300 rem/Jahr oder mehr".
Für Peter Rasch vom Bund der Geschädigten ist das noch nicht mal die ganze Wahrheit. Denn zu Röntgen- und Hochfrequenzwellen kam für zahllose Radarsoldaten auch noch eine Gefährdung durch radioaktive Aufschriften an den Geräten. Die sollten leuchten, damit der Operator die Skalen in abgedunkelter Umgebung überhaupt erkennen konnte. „Man hat den Leuten teilweise den Befehl gegeben, die Schriften auszukratzen, um sie mit strahlendem Material aus einer Tube zu erneuern", weiß Peter Rasch von mehreren ehemaligen Soldaten. „Kein Wunder, wenn die Partikel dann über Finger und Mund in den Körper verschleppt worden sind. |
für ihn „eine unglaubliche Verletzung der Sorgepflicht der Bundeswehr gegenüber ihren Soldaten". Er hat seit seinem Wehrdienst die Zeugungsfähigkeit eingebüßt. Wenigstens die Röntgenstrahlung wird inzwischen nicht mehr bestritten. „Es gibt leider heute keinen Zweifel mehr, dass das militärische Radarpersonal in den Anfangsjahren der Bundeswehr ionisierender Strahlung ausgesetzt war", stellte eine Kommission unter der Leitung des ehemaligen „Zeit"-Herausgebers Theo Sommer im Juni fest. Und empfahl der Bundeswehr, sie sollte bei der Frage der Entschädigung „Billigkeitserwägungen walten lassen und sich juristische Kleinkrämerei versagen". Großspurig kündigte Minister Scharping „möglichst streitfreie und großherzige Regelungen" an.
Für manche Betroffene klingt das wie blanker Hohn. Denn einige kämpfen schon seit über zehn Jahren um die Anerkennung einer ,Wehrdienstbeschädigung", aber die Bundeswehr kann ihre Sanitätsakten „nicht finden". Und nachdem der schwerkranke Marinetechniker Hans-Jürgen Runge aus Eggebek vor dem Verwaltungsgericht Schleswig mit einer Klage erstmals Erfolg hatte, legte das Ministerium Berufung ein - „menschenverachtend" wie sich Bernhard Gertz vom Bundeswehr-Verband empört. „Zutiefst unbefriedigend" findet auch der scheidende Generalinspekteur Harald Kujat diese „eher schleppende Vorgehensweise unter Einbeziehung traditioneller Instanzen".
Schon die Sommer-Kommission hatte die Bürokraten im Ministerium gewarnt, dass „Sparsamkeit am falschen Platze die Bundeswehr teuer zu stehen kommen" könne. Da könnte er Recht behalten. In Berlin wird gerade eine Sammelklage vorbereitet, wie sie ohne Beispiel ist.
Für rund 700 Mandanten will der Opferanwalt Reiner Geulen neben Versorgungsbezügen auch Schadenersatz und Schmerzensgelder erstreiten. Bei Erkrankungen wie Herzrhythmusstörungen oder Immunschwäche bis 350 000 Mark pro Betroffenen. Bei Krebs und Todesfällen bis 600 000 Mark. Bei schweren genetischen Schäden bis zu einer Million Mark. „Die Strahlengefahren waren in der Fachwelt doch von Anfang an bekannt", sagt Geulen, „die militärische Führung hat die Leute einfach verheizt."
Das Verteidigungsministerium bestreitet jeden Vorsatz. Es hat inzwischen einen „Sonderbeauftragten Radar" eingesetzt, der Ansprüche ehemaliger NVA-Soldaten trotz Einigungsvertrags von vornherein abblockt. Hat eine Arbeitsgruppe mit technischen Experten eingerichtet, die Jahrzehnte zurückliegende Belastungen berechnen soll. Besteht bei jedem Bundeswehrsoldaten auf einer strikten „Einzelfallprüfung", Aber wie soll eine Soldatenwitwe nach 40 Jahren belegen, welchen Strahlen ihr Mann ausgesetzt war? „Natürlich trifft Scharping keine Schuld an lange zurückliegenden Vorgängen, aber er hat die Strahlenopfer und ihre Familien bisher schlicht im Stich gelassen", sagt Anwalt Geulen, der auch eine Klage gegen die Gerätehersteller in den USA plant.
Rudolf Scharping muss derweil mit Besuch in seinem Berliner Hauptquartier rechnen. Gut möglich, dass Radaropfer ihn dort bald zur Rede zu stellen versuchen. Witwen wollen mit Kindern und Enkeln vor Kasernentoren demonstrieren. „Fast jede Woche sterben weitere Krebskranke", sagt Dieter Neumann, der seit seiner Geburt gelernt hat, ums Überleben zu kämpfen, „aber wenn die im Ministerium auf eine biologische Lösung hoffen, dann haben sie sich vertan." |